Soulfood

Wie Sand am Himmel

Wochenlang hatte es nicht geregnet. Schatten, Konturen, die Abgründe und Höhen der Landschaft zerschmolzen zu einem wie aus Lehm gebrannten Abbild eines uralten Gedankens. Keine Farbe wagte es, den sandigen Frieden zu durchbrechen, den der Wind seit ewigen Zeiten durch die Wüste trieb.

Grobkörnig müssten die Fotos sein. Ja, das würde passen. So würde er die Lebendigkeit seiner Motive ganz erfassen können und zugleich die Sprache dieses Landes sprechen. Gestern, als er das Flugzeug verließ und die Hitze mit jedem Schritt weiter in ihn eindrang, bis sie ihn ganz ausgefüllt und ihm beinahe den Atem genommen hatte, da hatte er sich entschieden, die Erinnerungen dieser ausgetrockneten Stille zu finden. Vielleicht in einer Art Verzweiflung, um der glühenden Weite standhalten zu können, in die ihn der Jet ausgespuckt hatte, um dann mitsamt dem einzigen vertrauten Geräusch in dem sonderbar gelblichen Himmel zu verschwinden.

Er sah alles vor sich. Sein Werk, den Traum seines Lebens in Farben und Formen, die seine eigene Seele preisgeben würden – aber das war es ihm wert. Die Ausstellung würde in New York beginnen und von dort die ganze Welt erobern.
Er konnte es schaffen, das fühlte er.

Ein kalter Windstoß ließ die Tür laut ins Schloss fallen. Sie zuckte zusammen und sah von dem flimmernden Bildschirm auf. Wie klein sie sich hier fühlte – klein und schutzlos. Sie passte nicht in diese Stadt und nicht in dieses Büro, sie verstand die Menschen hier nicht und auch sich selbst immer weniger. Ihre Träume rissen sie immer wieder fort in eine undeutliche Kindheit, die irgendwo aprupt geendet hatte. Sie sah zu dem Bild, das über ihrem Schreibtisch hing. Es war aus einer der Künstlermappen gerutscht, die man ihr hineinreichte, damit sie sie – mit einer Absage versehen – zurückschickte.

Dieses Bild … sie hatte damals nicht nach der Mappe gesucht, in die es gehörte. Sie hatte es vom Boden aufgehoben und angesehen, sich dabei langsam gesetzt und erst später gemerkt, dass sie geweint hatte.
Genau wie an diesem Tag fühlte sie auch heute noch die Kraft, die sie in das Bild hineinzog. Es öffnete sich unter ihrem Blick, wurde grenzenlos und nahm sie in die Arme, bis sie sich in warmer Geborgenheit wiederfand. Sie sah ihre eigenen Spuren in diesem sandigen Boden. Da, wo sich das Wasser zurückgezogen und nichts als Sehnsucht hinterlassen hatte und eine Weite, in der sich nichts verbergen ließ. Diese Erde war in ihrer Verwundbarkeit stolz und kraftvoll. Die Hitze zwang sie dazu, sich bis in ihr Innerstes zurückzuziehen, doch aus dieser Mitte heraus lebte sie. Von dort brachte sie ihren Pulsschlag an die Oberfläche, teilte mit diesem Rhythmus die Ewigkeit in Fruchtbarkeit und Dürre, Sand und Wind, Dämmerung und Licht. Sie hörte die Stimme dieses Landes, wenn sie das Bild ansah.

Tagelang hörte er nur das Surren des Auslösers. Die stille Schönheit, die er in den Bildern einfing, lag tatsächlich, wie durch ein unsichtbares Tor geöffnet, vor seinem Objektiv – mehr noch: sie umgab ihn in den Augenblicken des Festhaltens und der sich bewegenden Welt dazwischen. Die Menschen dieses Naturvolkes schienen den Moment des Verstellens nicht zu kennen, der es ihm üblicherweise schwer machte, authentische Bilder zu erhalten. Hier aber fand er die Anmut der Seele in Gesichter geschrieben, er sah Dialoge, die ohne ein gesprochenes Wort die Tiefe des ganzen Bildraumes füllten.

Er arbeitete wie in Trance.
Atemlos ergab er sich der Größe menschlicher Ausdruckskraft, die alle seine Erwartungen übertraf. Er hatte die Bildmotive lange geplant, sich um die drei zahmen Geparden gekümmert, die weißen Gewänder nähen lassen und in den umliegenden Dörfern nach den Gesichtern gesucht, die seine Bilder ins Leben holen würden – und ja! Er hatte sie gefunden. Zurück in New York entwickelte er die Fotos und begann, einige Arbeiten in Großformat aufzuziehen.

Immer wieder stand er vor dem Bild.
Der zierliche Junge lehnte Kopf und Schulter an den aufrecht neben ihm sitzenden Geparden – Ruhe und Sicherheit findend neben der Raubkatze, die diesen Moment der vertrauensvollen Nähe mit sanfter Wachsamkeit in ihren Schutz nahm. Das Bild war wie all die anderen weder schwarzweiß, noch bunt. Seine Farbe war weich und warm, sanft und klar zugleich.
Sie war … wie Asche und Sand.
Ja, er würde es noch einmal versuchen.
Die Mappe musste bereits im Museum eingetroffen sein.

Sie sah das Bild an. Ein Junge mit ausdrucksvoll klarem Gesicht saß, an einen Geparden gelehnt, auf einem Felsen. Die anmutige Kraft der Raubkatze machte die schutzsuchende Geste des Jungen zu einem Augenblick der stillen Größe und des bedingungslosenVertrauens.Wo die dunkle Haut des Jungen das weiche Fell der Raubkatze berührte, wurde etwas wahr, das man Zärtlichkeit nennen könnte, oder alles überwindenede Nähe. Es war ein Moment, den sie berühren wollte, um seine Schönheit begreifen zu können. Dieses Foto war die Vollendung eines Gedankens, dessen Farbe sie sofort erkannte – sie musste das Bild über ihrem Schreibtisch nicht einmal ansehen.

Sie setzte sich, um das Anschreiben zu verfassen.

Er fuhr mit dem Aufzug in den 14. Stock und suchte das Büro, das man ihm genannt hatte.
Eine junge Frau öffnete die Tür und bat ihn herein. Ihr Lächeln hatte jene Intensität, die Dunkelhäutigen durch ihre strahlend weißen Zähne und die Schönheit ihrer Gesichtsform eigen ist. Die Bewegungen ihres schlanken Körpers waren voller Anmut und er fühlte sich beinahe schmerzhaft an seine ergreifende Zeit in Afrika erinnert. „Ich freue mich, Sie als einen unserer ausstellenden Künstler begrüßen zu dürfen.“ sagte sie in diesem Moment und entriss seine Gedanken der wehmütigen Tiefe.

Er hatte es also tatsächlich geschafft …
Nach der Unterzeichnung des Vertrages sah sie ihn plötzlich mit einem Blick an, der durch seine Klarheit hindurch sehr verletzlich wirkte. „Ich möchte Ihnen etwas zurückgeben.“ sagte sie und reichte ihm einen verschlossenen Umschlag, den sie aus einer Schreibtisch-Schublade genommen hatte. „Und nun … wünsche ich Ihnen alles Gute für Ihre Ausstellung. Sie haben mit Ihrem Werk den Horizont der Foto-Ästhetik in neue Dimensionen gerückt. New York … wird für Sie nur der Anfang sein.“ Noch im Aufzug öffnete er den Umschlag. Es war das Foto, das man ihm damals nicht zurückgesandt hatte, nachdem er eine Absage erhalten hatte. Er sah es sich noch einmal an – es schien ihm seltsam fremd. Als würde etwas fehlen.. da waren nur Himmel – und Sand! Hatte er damals tatsächlich nicht gewusst, dass es die Berührung des Menschen war, die eine Landschaft, die ein Bild sprechen ließ?

Sie sammelte die letzten Blätter zusammen und legte sie zu den anderen Dingen in den Karton, schob den Stuhl an den Tisch und sah zwischen den Dächern der Stadt hindurch in den grauen Himmel über NewYork.
Nein, dies war nicht ihr Himmel.

Ihr Himmel berührte am Horizont den Boden, in einem Wirbel von heiß flirrender Luft, während der ewige Wind einen Hauch von sandigem Gelb in die blaue Weite malte.

 


Mit einem Lächeln für K.M. Verwendung des Textes, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung.

Foto © Anna Pakutina | Dreamstime

 

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